Von Erinnerungen und fehlenden Möglichkeiten

Ich hatte gestern einen wunderschönen Abend. Wirklich einer der feinsten seit sehr langer Zeit: Ich habe eine ganze Truppe an Bekannten wiedergetroffen, die im gleichen Sommerhaus als Kinder Ferien machten - quasi die Kinder des Freundeskreises der SommerhausbesitzerInnen. Ich war mit 40 die Zweitjüngste, aber Lukas ist nur sehr knapp hinter mir. Leider hat er mich immer noch nicht überholt. 

Es war ein Abend voller guter Erinnerungen. Voller "x hat sich überhaupt nicht verändert, y ist seinem Vater wie aus dem Gesicht gerissen" und der Feststellung, dass wir damals schon alle ziemliche Rabauken waren, der Garten war ein einziger Abenteuerspielplatz, der (immer eiskalte) See dahinter noch viel spannender, Hauptsache, man erschien mit gewaschenen Fingern zum Mittagessen. Es war auch eine Abend mit der gemeinsamen Feststellung: Unsere schönsten Kindheitserinnerungen sind dort entstanden, in diesen Sommer- und Wintertagen. Und selten war ein Abend so schön, hat so ein wohliges Gefühl im Bauch gemacht, weil halt irgendwie doch alles gut war. Wir erinnerten uns liebevoll an Menschen, die in der Zwischenzeit gestorben waren, wir erzählten uns gegenseitig, was das Leben so mit uns getrieben hatte, und irgendwie war doch jeder Lebensweg.... gut! 

Heute wachte ich auf und wie so oft machte ich mir erstmal gemütlich einen Tee, legte mich wieder ins Bett und las Onlinezeitung. Afghanistan, Afghanistan, Afghanistan. Kurz später rief mich dann mein afghanischer Freund an, da er Hilfe im Bürokratiedschungel rund um den Schulanfang seiner Kinder brauchte. Seine Frau und er leben seit Tagen in großer Sorge um ihre Verwandten zuhause in Kabul.

Und dann fuhr es mir eiskalt über den Rücken. Das, was ich da gestern genießen durfte, dieses Zusammensein von einem Dutzend Menschen, die das Leben in den letzten 30 Jahren doch recht gut verstreut hat, denen es aber allen gut geht, die Familie haben, Kinder, und dieses Teilen von Erinnerungen, dieses Schwelgem im Gemeinsamen, es war wertvoll. Dieses Wissen, der Kerl da gegenüber, den ich das letzte Mal gesehen habe, als ich noch zwei Kopf kleiner war als er (und jetzt etwas größer bin als er), auch Party im Kinderzimmer gemacht hat, auch weiß, wie es im Wohnzimmer roch, wenn der Kamin eingeheizt war, und wie kalt es im Vorraum war, durch den man schnell durchmusste am Weg aufs Klo - etwas Vergleichbares werden meine afghanischen Freunde hier nie wieder haben. Nie. Sie haben Asylstatus, sind so sehr hier angekommen, dass ich sie liebevoll meine Integrationsstreber nenne, und in ihrem Pass steht klar: Sie dürfen in jedes Land der Welt reisen, nur nicht in ihre eigene Heimat. Was logisch ist, aber trotzdem emotional hardcore. 

Zack, schon sitzt das Messer bei mir im Herz. Und gleichzeitig eine irre Wut. Liebe Menschen, die ihr Flüchtlinge ablehnt, Menschen, die vor den Taliban flüchten wollen: Wisst ihr eigentlich, was diese Menschen in Kauf nehmen? Was sie zurücklassen, nur, um sicher zu leben und ihren Kindern eine Zukunft zu geben? Und wer mir jetzt mit Kriminalitätsrate kommt: Ich schätze, locker 95 Prozent der Geflüchteten sind nicht kriminell - aber stehen halt auch nicht in der Zeitung. Und haben keine Möglicheit, sich ihre Erinnerungen einfach mal wieder an einem lustigen Abend wieder aufzufrischen.

Diesen Gedanken werd ich wohl so schnell nicht wieder los. Ich weiß, es ist eine völlig banale Erkenntnis. Komplett. Aber man hats halt nicht immer präsent, sondern mehr so im Hinterkopf. Doch genau diese Empathie, die mich in solchen Momenten überkommt, die will ich mir immer präsent halten. Nennt sich wohl Humanismus.