Ich habe keine Meinung.

Ich leiste es mir, manchmal keine Meinung zu haben. Doch kann ich es mir eigentlich leisten?

Denkaufgabe: Früher war ich ganz schnell mit Meinungen und dem Postulieren jener. Ich empfinde es aber inzwischen als Luxus, es mir zu leisten, zu manchen Themen keine Meinung zu haben. Mir einzugestehen: Dazu weiß ich zu wenig, um mir eine Meinung zu bilden, und mir fehlt Zeit und Energie, mich damit so sehr zu beschäftigen, dass ich mir überhaupt eine Meinung dazu erlauben darf. Geh ich meine eigene Meinungsbildung so an, wie es sich gehört, nämlich durch vielschichtige Information und Anhören mehrerer Seiten, dann ist das ja wiederum ziemliches Privileg: Ich habe Zugang zu den verschiedenen Informationen und die Zeit, mich damit auseinander zu setzen. 

Wie viel Nicht-Meinung darf ich mir also eigentlich leisten? Wo wird Nicht-Meinung zu "es ist mir wurscht", unter dem dann jene, die das System nicht bevorteilt, leiden?

Beispiel: Ich hab keine Meinung zu Kopftüchern. Eine Weile war ich sehr dagegen, dann stieg meine Akzeptanz wieder sehr, dann funkte mir mein eigener sehr kategorischer Atheismus rein. Inzwischen sage ich: Das Thema ist so komplex, dass ich es nicht schaffe, mir eine abschließende Meinung dazu zu bilden. Ich werde niemals öffentlich gegen Kopftücher auftreten, ich lehne im Gegenteil dazu sogar gerne öffentlich diese miese Symbolpolitik am Rücken von Frauen ab. Die Frau ist immer wichtiger als das Stück Stoff, das sie oder das sie nicht auf ihrem Kopf trägt. Ich kenne inzwischen zig unterschiedliche Meinungen zum Kopftuch, und so viele Perspektiven drauf, und habe gemerkt, dass ich es niemals aus der Perspektive einer Trägerin sehen werde, weil selbst wenn ich es aufsetzte: Ich würde die Auswirkungen merken, aber die innere Motivation trotzdem nicht spüren. Daher leiste ich mir, keine Meinung zum Kopftuch zu haben, aber dafür eine klare in Sachen Selbstbestimmung der Frau. Die in meiner Welt beinhaltet, mir kein Kopftuch aufzusetzen, weil keine der Begründungen für mich persönlich nachvollziehbar ist. Aber es bringt nix, einzelnen Muslimas ihr Kopftuch vorzuwerfen, und die Systemfrage ist wie gesagt unfassbar komplex. 

Bevor ihr mich jetzt shitstormts: Ich überlege öffentlich ob der Komplexität des Themas, und mach mir im gleichen Moment Sorgen, dass die woke Cancel Culture (zu der ich eine seeeeeeehr klare Meinung habe) in das Eck der Kopftuchablehnerin stellt und mir Positionen zuschreibt, die nicht meine sind. Genau diese Kultur hat dazu geführt, dass alle zu allem eine Meinung haben müssen, sonst wird sie ihnen zugeschrieben. Kann ich mir den Luxus, keine Meinung zu haben, also überhaupt noch leisten? Ich möchte es sehr.