Der Konsum-Streit - 100 Jahre alt.

Ich habe letztens bei einer Wohnungsräumung ein Buch gefunden. Das „Familien-Jahrbuch 1911“ des „Vereins gelernter Kaufleute Österreichs“. Es ist eine Ansammlung an praktischen Informationen von einem Kalender über alle Straßennamen Wiens bis hin zu den Sitzplänen aller großen Theater, und das ganze übervoll garniert mit Werbungen.

Und dann fand ich zwei Seiten, die mich echt beeindruckten, weil – Der erste Teil wurde 1907 geschrieben, der zweite wenig später - es liest sich wirklich wie ÖGB gegen WKO oder SPÖ gegen ÖVP, bzw. der Anfang, dieses Aufhussen, nach FPÖ. Und das Arge: Das ist weit über 100 Jahre her! Und was hat sich geändert?

Aber lest selbst – ich habs abgetippt, weil alte Schrift, und pfuh, da muss man in Übung sein zum Lesen (bei ss und ß hab ich übrigens automatisch umgewandelt in aktuelle Rechtschreibung, ist mir aber erst am Schluss aufgefallen…). Ich war echt sprachlos beim Lesen. Die Probleme ähnlich, die Positionen leider auch, mit der Macht der KonsumentInnen wird um sich geworfen, die ÖVP-Seite huldigt dem freien Markt von Angebot und Nachfrage („Naturgesetz“), es werden Selbstständige gegen ArbeiterInnen ausgespielt, es ist kein Interesse an gemeinsamer Lösung lesbar. Politikum halt. Aber ganz ehrlich, das mit der Konsumgenossenschaft, ich würd da gern einen neuen Versuch sehen in diesem Land. Einen, der nicht in einem Korruptionsskandal endet.

Bitteschön, hier der Text (und übrigens, kurz danach war Weltkrieg, gell?):

An alle Männer und Frauen der Arbeit!

Heute habt ihr einmal recht ungebetene Gäste gehabt. Die Mutter hat wie gewöhnlich den Laib Brot nachhause gebracht, aber ehe ihr ihn noch angeschnitten habt, kommt ein wildfremder Kerl von der Straße herein, einer, den ihr nie in eurem Leben gesehen habt, dem ihr nichts schuldet, den ihr nicht kennt, und schneidet sich einen tüchtigen Happen herunter. Ohne Gruß ist er gekommen, ohne Dank verschwindet er. Er hat zwar einen feineren Rock an, als ihn die Mutter je gesehen, und einen Hut von feinsten Seidenhaar hat er auf dem Kopf, aber die Mutter ist eine gute Frau und lässt ihn gewähren. Das heißt, der Fremde ist schneller wieder beim Teufel, als sie es auszudenken vermag, was er eigentlich getan hat.

Dann sitzt ihr alle um den Tisch herum und eben kommt die Mutter mit der dampfenden Schüssel voll Kartoffeln vom Herde her, aber ehe ihr noch zugreift, ist schon wieder so ein Kerl da, diesmal ein anderer, einer von recht ungeschlachtem Wesen, der polternd in die Stube getreten ist, mit schweren Stiefeln einer und mit einer dicken Silberkette auf dem Bauche, und ehe ihr euch versehet, hat er mit seinen dicken Pratzen in die Schüssel gelangt und eine tüchtige Fuhre Kartoffeln daraus genommen. Und polternd, wie er gekommen, ohne Gruß, so verschwindet er auch ohne Dank.

Und ihr alle waret so gute Menschen und habt ihn gewähren lassen. Aber die Gespenster dieses Tages wollen nicht zur Ruhe kommen. Die Großmutter ist krank und braucht ein warmes Zimmer; kaum will die Mutter tüchtig nachfeuern, kommt wieder einer, diesmal wieder ein gar feiner Herr mit Glacéhandschuhen an den Händen, und wie die beiden anderen nimmt er den Kohlenrest aus dem Kübel und lädt ihn draußen auf den Wagen, in dem er vorgefahren war. Und abends, kaum dass ihr euch um den Tisch setzen wolltet, um nach des Tages Mühen und Aufregungen ein wenig zu lesen oder zu plaudern, kommt der Vierte und dreht euch das Licht aus. Das Überbleibsel an Petroleum aber nimmt er sich fort.

Und wieder lasst ihr ihn gewähren und ihr lasst den Fünften ungeschoren, der eurem Kind das Tutenfläschchen halb voll mit Milch aus der Wiege raubt, und den Sechsten, der euch das Stückchen Fleisch, das ist bisher wenigstens am Sonntag sicher hattet, beschneidet. Und den Siebenten, der euch den Kaffee nimmt und dafür Zichorie bringt, und den Achten, der findet, dass ihr Schleckermäuler seid und der darum einen tiefen Griff in die Zuckerbüchse macht, und den Neunten und Zehnten und ihr würdet auch den Hundersten noch nicht beim Kragen packen und hinauswerfen, ehe er den Raub an eurem Gute vollzogen, wenn ihr schließlich nicht sähet, dass es so nicht weitergeht, dass ich um so mehr ausgeraubt werden, je bessere Leutchen ihr seid.

Versteht ihr den Sinn dieser wahren Geschichte? Kennt ihr alle diese feinen und ungeschlachten Leute, die euch so keck in die Schüssel greifen? Ihr kennt sie nur vom Hörensagen, nur wenige von euch haben sie von Angesicht zu Angesicht gesehen, einen oder den anderen dieser Räuber an eurem Gute, und haben sie sie gesehen, so sind sie vielleicht gar noch vor Ehrfurcht erstorben vor diesen Rittern und Baronen, Grafen und Fürsten, vor diesen orden- und titelreichen Herren der Lande und der Börsen, deren Lebensberuf es ist

DAS VOLK AUSZUWUCHERN.

Nun erkennt ihr den Kornwucherer und den Viehbaron, den Kohlenkönig und den Zuckergrafen und die andern alle, auch den Kartoffelgroßhändler, der vom Bauern um dasselbe Geld immer mehr von der Erdfrucht fordert und dafür den Arbeitern um dasselbe Geld immer weniger gibt, damit ihm selber doppelter Gewinn ohne Arbeit werde. Nun erkennt ihr sie alle … aber nun ist es auch Zeit, dass ihr euch zur Wehr setzt. Tut ihr es denn nicht? Ihr setzt euch doch zur Wehr! Ihr zahlt doch in eure gewerkschaftlichen Kriegskassen und eines Tages tretet ihr in den Streik, um höhere Löhne zu erringen, mit denen ihr dann die höheren Lebensmittelpreise erschwingen wollt.

Die Löhne steigen auch wirklich, aber der volle Siegespreis eurer oft so opferreichen Kämpfe fällt nicht ganz euch zu. Ehe ihr heimkehrt von der Schlacht, ist schon das Brot und die Milch, das Fleisch und die Hülsenfrucht wieder teurer, hat der Profithunger der Zwischenhändler schon wieder einen Teil hiervon verschlungen. Wir leben in einer PERIODE DES AUFSCHWUNGS, aber für das arbeitende Volk ist es eine Periode vermehrten Hungers.

ALLES BEREICHERT SICH, NUR DER ARBEITER HUNGERT UND NIRGENDS HILFE.

Im Gegenteil! Die eigentlichen Nutznießer unserer Kämpfe, die Vermittler der Waren, deren wir zur Fristung unserer Existenz bedürfen, die sind es, die Hilfe und Unterstützung finden. Denn der Reichsritter von Hohenblum hat einen RING DER AGRARIER geschmiedet, um dem ihm wehrlos gegenüberstehenden Volk der Konsumenten, dem Verbraucher aller Erzeugnisse, solche Preise zu diktieren, wie es ihm beliebt. Und dieser Ring der Agrarier ist so mächtig, dass er auch den Ackerbauminister Auersperg in seinen Bannkreis zog.

DER REICHSRITTER PFEIFT, DER MINISTER TANZT.

Dazu ist es aber nötig, dass das arbeitende Volk, das seine Feinde auf allen Gebieten erkannt hat, auch hier die Augen offen habe und seine Schüsseln bewache, auf dass nicht unberufene Hände hineingreifen. Wenn das arbeitende Volk will, so ist HIER im Handumdrehen Wandel geschaffen.

Und ihr wollt! Ihr Frauen und Männer der Arbeit! Ihr wollt kämpfen um den Happen, der euch täglich entrissen wird. Und wie ihr politisch und gewerkschaftlich die Notwendigkeiten unserer Zeit erkannt habt, so werdet ihr euch auch

ALS KONSUMENTEN ORGANISIEREN.

Ihr hab die Selbsthilfe als das Richtige erkannt, wohlan, lasset der Erkenntnis die Tat folgen. Löst euch los von den Lebensmittelwucherern aller Art und aller Abstufungen und

TRETET IN SCHAREN DEN KONSUMVEREINEN BEI

die der Zentralverband österreichischer Konsumvereine allerorten gründet und dank seiner Verbindung mit der von den Konsumvereinen gegründeten GROSSEINKAUFSGESELLSCHAFT so zu führen in der Lage ist, dass ihr alle Waren rein und unverdorben, in guter Qualität und dank dem Umstand, dass ihr nun selbst Großhändler seid, zu billigem Preise bei ehrlichem Gewicht erhält. Außerdem wird euch am Jahresschluss ein Gutteil des Gesamtgewinnes als Rückvergütung in barem Geld gegeben. Und obendrein habt ihr noch die Gewähr, dass die Bediensteten keine Sklaven sind, dass sie besser bezahlt werden und eine kürzere Arbeitszeit haben, als irgendwo bei den Kleinkrämern.

Erkennt ihr eure Macht, so könnt ihr eine neue Schlacht gewinnen.

 

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Und jetzt die Gegenrede:

Dieses Flugblatt wurde im Oktober 1907 in Wien und den Fabriksorten von Tür zu Tür getragen. Es hat seine Wirkung getan, mehr als 1/5 der Bevölkerung ist Mitglied der Konsumvereine geworden. Da ist wohl auch die Frage am Platze: Sind die Verhältnisse besser geworden?

NEIN!

Haben die Konsumvereine die Teuerung aufhalten können? Nein! Ja im Gegenteil, noch niemals haben wir, wie behauptet wird, eine solche Teuerung gehabt als gerade in den letzten Jahren. Was haben die Konsumvereine dann für einen Zweck als einigen Schreiern die Taschen zu füllen.

Greifen wir einige Artikel heraus. Haben die Konsumvereine den Zucker billiger gemacht, oder ist er in ihren Filialen billiger zu haben? Nein! Ja warum nicht? Beweist dies nicht zur Genüge, dass auch die Konsumvereine die Teuerung nicht aufhalten können? Das Angebot und die Nachfrage bilden mit Ausnahme von Spekulation den Preis. Das war – ist – und wird trotz der Konsumvereine immer sein, weil es ein Naturgesetz ist.

Aber noch eine naheliegende Frage sei hier erlaubt. Wer ist es, die gegen die Lebensmittelteuerung am allermeisten und lautesten schreien? Gerade die Mitglieder von Konsumvereinen sind es, die am lautesten schreien. Ja, warum rufen sie das dem Kaufmann, dem Gewerbetreibenden, der Nachbarin in die Ohren und durch die Zeitungen in den Mund? Warum rufen sie dies nicht in ihrer eigenen Konsumvereinsfiliale, in ihrer eigenen Konsumvereinszentrale, in ihrer Großeinkaufsgenossenschaft, die ihnen versprochen hat, dass sie der Lebensmittelteuerung Einhalt bieten kann und wird?

Sie sind ja Mitglieder, also selbst Kaufmann. Konsumvereine kaufen, wie ihnen versichert wurde, nur beim Fabrikanten oder Produzenten. Warum das Geschrei gegen den Zwischenhandel? Für sie als Mitglied von Konsumvereinen gibt es oder soll es wenigstens keinen Zwischenhandel geben. Sind sie jetzt nicht erst recht die Gefoppten? War nicht alles Humbug und Schwindel, was an ihnen vormachte?

Eines ist noch, was ihnen der Konsumverein bietet: die „Dividende“. Haben Sie wohl auch über die schon einmal nachgedacht, woher sie kommt und wohin sie geht? Sie kommt und kann naturgemäß nur aus ihrer Tasche kommen und halten Sie es für ein besonderes Verdienst , wenn man sie Ihnen zum Jahresschluss wieder zurückgibt? Fragen Sie einmal, was bei Ihrem nächsten Kaufmann der Zucker kostet und es wird Ihnen klar sein, woher die Dividende kommt.

Reine, unverdorbene, gute Qualität und gutes Gewicht soll der Konsumverein geben. Ja, haben Sie noch niemals gelesen, wieviel Wasser der Leiter der Konsumvereinsfiliale „Vorwärts“ in die Milch gegossen, wieviel verdorbenes Fleisch und andere Waren in vielen Konsumvereinsfilialen verkauft werden mussten, und glauben Sie nicht, dass dies nur dort möglich ist, wo der Käufer dem Verkäufer gedankenlos nachläuft. Glauben Sie nicht, dass man dies nur jener Kunde geben kann, die durch ihre Mitgliedschaft gebunden ist. Glauben Sie nicht, dass solche Dinge in einem anständigen Geschäft nicht vorkommen dürfen und können.

Derjenige, der mit seinem Hab und Gut, mit seiner Familie, mit seiner Ehre dafür einsteht, wird Sie jederzeit gut und nach Möglichkeit billig bedienen, das ist der Detailkaufmann, der unter und mit Ihnen lebt, der tägliche Sorgen gerade so hat wie Sie, der mitempfindet und mitfühlt, der auch in manchen Fällen mit Rat und Tat beisteht.

Ja, der Kaufmann, der Gewerbetreibende, er muss verdienen, werden Sie sagen. Ja, sagen Sie mir, müssen nicht auch Sie oder Ihr Mann verdienen? Ist der Verdienst von heute nicht schon bei allen Berufsschichten (Großkapital ausgenommen) zur reinen Lohnsklaverei geworden? Und muss der Konsumvereinsleiter nicht auch verdienen? Haben Sie noch niemals Gelegenheit gehabt, in den Städtischen Versorgungshäuser nachzufragen, wer all die Leute waren, die diese füllen? Nehmen sie nicht nur von jenen das Maß, die durch reiche Heirat, Erbschaft, Spekulation oder sonstigen Zufall hervorleuchten. Lesen Sie einmal die Statistik der Zugrundegegangenen. Wenn es wahr wäre, dass man es beim Lebensmittelhandel leicht zu einem Vermögen bringen kann, warum führen Sie Ihre Söhne und Töchter nicht diesem Stande zu?

Es ist ein großes Unrecht, dass man gerade dem Lebensmittelhändler den mageren Verdienst mißgönnt, ja ihm womöglich entzieht. Was würden all die Fragen sagen, wenn man auch ihren Männern den Verdienst untergraben, ja entziehen würde? Gewiss und mit vollem Recht würden sie es als Unrecht empfinden, wie es auch die Lebensmittelhändler als Unrecht empfinden, wenn ihr ohnedies magerer Verdienst, der ja schon seit langem zum Arbeitslohn herabgesunken ist, entzogen wird.